Der Koalitionsvertrag steht – und was nun? Eine persönliche Einordnung

Seit gestern steht der Koalitionsvertrag zwischen der SPD und der Union. Nach wochenlangen Verhandlungen haben sich beide Seiten auf eine gemeinsame Regierungsarbeit für die kommenden Jahre verständigt. Für viele von uns in der Partei ist dieser Vertrag ein Prüfstein: Was ist von unserem Wahlprogramm geblieben? Was davon spiegelt sich in der Vereinbarung wider? Und vor allem – können wir dem als Mitglieder guten Gewissens zustimmen?

Ich habe mir die Mühe gemacht, den gesamten Koalitionsvertrag von vorne bis hinten zu lesen – mit dem Blick eines Familienvaters, engagierten Bürgers, und als stellvertretender Vorsitzender im Ortsverein der SPD im Bamberger Osten, der für eine offene, solidarische und gerechte Gesellschaft steht.

Viel Licht…

Positiv fällt auf: In zentralen sozial- und arbeitsmarktpolitischen Fragen konnte die SPD starke Akzente setzen. Ein Mindestlohn von 15 Euro bis 2026, verankert durch die Koppelung an 60 % des Bruttomedianlohns – das ist keine Kleinigkeit, sondern ein echter Erfolg.

Was ist der Bruttomedianlohn? Ganz einfach gesagt: Wenn man alle Vollzeitgehälter in Deutschland der Höhe nach sortiert, dann ist der Median der Lohn genau in der Mitte – also der Wert, bei dem die eine Hälfte der Menschen mehr und die andere Hälfte weniger verdient. An diesem Durchschnitt orientiert sich künftig der Mindestlohn – das macht ihn gerechter und realistischer.

Auch die sozial gerechte Ausgestaltung der Transformation – Stichwort Klimasozialfonds, massive Investitionen in Bildung und Digitalisierung – trägt klar die Handschrift unserer Partei.

Die Stärkung kommunaler Daseinsvorsorge, die Förderung bezahlbaren Wohnraums, eine neue Kinderkarte zur unkomplizierten Nutzung von Bildungs- und Freizeitangeboten für alle Kinder sowie die Ankündigung einer umfassenden Sozialstaatsreform zeigen: Soziale Gerechtigkeit ist nicht nur rhetorisches Beiwerk, sondern zentrales Anliegen dieser Regierung.

Auch das außen- und europapolitische Kapitel überzeugt. Die klare Haltung zur Unterstützung der Ukraine, das Bekenntnis zur EU, zur regelbasierten internationalen Ordnung und zur multilateralen Verantwortung sind angesichts der geopolitischen Herausforderungen ein wichtiges Signal – nicht nur nach außen, sondern auch nach innen.

…und doch auch Schatten

Kritisch sehe ich die migrationspolitischen Passagen. Während Integration und gezielte Fachkräftezuwanderung betont werden, ist der Ton an vielen Stellen deutlich konservativer geworden. Der Geist einer Willkommensgesellschaft weicht einer restriktiveren Ordnungspolitik, bei der Schutzsuchende häufiger als Problem, denn als Potenzial gesehen werden. Das ist nicht meine Vorstellung von Humanität und gesellschaftlicher Zukunft.

Noch gravierender wiegt aus meiner Sicht das völlige Fehlen der Bürgerversicherung. Das von uns über Jahre entwickelte Modell für ein solidarisches Gesundheitssystem wird nicht einmal erwähnt. Damit bleibt ein zentrales sozialdemokratisches Reformprojekt wieder einmal auf der Strecke – aus Rücksicht auf den Koalitionspartner.

Auch der Mieterschutz bleibt hinter unseren Erwartungen zurück. Kein Mietenstopp, keine bundesweiten Obergrenzen – lediglich eine Verlängerung bestehender Instrumente. Hier hätten wir mutiger sein können, vielleicht auch müssen.

Was bleibt?

Koalitionen sind immer Kompromisse. Sie sind kein Wunschkonzert – sondern der Versuch, in einem pluralistischen System gemeinsam Verantwortung zu übernehmen. Gemessen daran ist dieser Vertrag ein gangbarer Weg. Für viele unserer zentralen Forderungen haben wir harte Verhandlungen geführt – und vieles erreicht.

Dennoch: Ein Koalitionsvertrag ist kein Parteiprogramm. Er ist ein Werkzeug – nicht mehr, aber auch nicht weniger. Er muss sich in der konkreten Regierungsarbeit bewähren.

Mein Fazit

Ich werde in der Mitgliederbefragung zustimmen – nicht euphorisch, aber aus Überzeugung. Aus der Überzeugung heraus, dass wir in dieser Regierung viel gestalten können. Aus der Überzeugung, dass soziale Gerechtigkeit, Klimaschutz, Digitalisierung und internationale Verantwortung keine Gegensätze sind – sondern das Fundament einer modernen, sozialdemokratischen Politik.

Aber ich stimme auch mit klarer Kritik: an den Leerstellen im Migrationskapitel, an der fehlenden Bürgerversicherung, am schwachen Mieterschutz. Diese Themen gehören für mich weiter auf die Agenda – in der Partei, in der Fraktion, in der öffentlichen Debatte.

Denn Zustimmung heißt nicht Schweigen. Zustimmung heißt: Verantwortung übernehmen – und gleichzeitig dranbleiben. Genau dafür stehe ich.

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